Mit etwa einhundert Wohneinheiten wird das Citadelle-Viertel schon bald Vorreiter für partizipatives Wohnen in Frankreich sein. Diese neue Form der gemeinschaftlichen Planung und Nutzung von Wohnraum findet immer mehr Zuspruch – auch und vor allem in Straßburg! Aber was genau ist partizipatives Wohnen? Gibt es mehrere Arten? Für wen ist es gedacht? Wie muss man sich die Umsetzung vom Plan bis zur baulichen Ausführung vorstellen? Erfahren Sie Näheres in diesem Artikel.
Was ist partizipatives Wohnen?
Gemäß der Definition des französischen Umweltministeriums werden „partizipative Wohnprojekte von gesellschaftlich engagierten Bürgern zur Schaffung gemeinschaftlichen Wohnraums nach ökologischen Kriterien initiiert“. Es gibt mehrere Arten gemeinschaftlichen Wohnens. Alle sind im Citadelle-Viertel vertreten und werden nachstehend beschrieben. Im Einzelnen sind dies Baugemeinschaften, frei finanzierte Wohnungen, geförderte Wohnungen und sozialer Mietwohnungsbau. Partizipatives Wohnen setzt eine aktive Beteiligung der künftigen Bewohner*innen unter eigener Federführung oder unter Leitung eines privatwirtschaftlichen Bauträgers oder einer sozialen Wohnungsbaugesellschaft voraus. Je nach Modell ist der Umfang dieser Beteiligung an Planung, Bau und Verwaltung des geschaffenen Wohnraums allerdings unterschiedlich.
In Straßburg müssen alle Formen partizipativen Wohnens folgenden Kriterien der Charte de l’habitat participatif de la ville des Umweltministeriums genügen:
- Planungsbeteiligung der künftigen Bewohner*innen („Co-Conception“)
- kollektive Nutzung der Gemeinschaftsräume („Mutualisation“)
- und Zusammenleben („Vivre-Ensemble“).
Hinweis: Zweck der Projekte kann die Errichtung von Neubauten sein, wie im Citadelle-Viertel, aber auch die Renovierung von Bestandsgebäuden.
Konzeptionelle Gemeinsamkeiten
Die ausgeschriebenen Gelände oder Gebäude befinden sich meist im Besitz der Stadt oder eines öffentlichen Raumplanungsunternehmens. In der Ausschreibung sind Vorgaben für den zu schaffenden Wohnraum bzw. dessen Integration in das Wohnviertel definiert, deren Einhaltung die Bewerber nachweisen müssen. Die gilt vor allem für ihre Vorstellungen vom künftigen Miteinander der Bewohner*innen.
Ein partizipatives Wohnprojekt sieht immer gemeinsam genutzte Innen- und Außenräume vor. Das können Gästezimmer, Werkstatt-, Arbeits- oder Wäscheräume, eine Terrasse oder ein Gemeinschaftsgarten sein. Die Bewohner*innen nutzen diese Räume ihren Wünschen und Bedürfnissen entsprechend.
Partizipative Wohnprojekte sind darüber hinaus oft auch ökologisch ausgerichtet. Allerdings ist dies keine Voraussetzung für die Teilnahme an den Ausschreibungen. „Wer sich an partizipativen Wohnprojekten beteiligt, denkt meist auch ökologisch und gesundheitsbewusst“, stellt Emmanuel Marx fest. Er ist Vorsitzender des Vereins Éco-Quartier Strasbourg, der die SPL Deux-Rives und die Stadt Straßburg zum Thema Ökologisches Bauen berät. „Materialien, Einfluss der Baustoffe auf die Luftqualität der Innenräume, Elektrosmog – in diesen und vielen anderen Punkten werden die Mindestanforderungen oft weit übertroffen!“ Gemeinschaftliche Arbeitsräume und Gästezimmer verbessern zudem die Flächennutzung, helfen die Baukosten senken und reduzieren die Bodenversiegelung. Das Interesse der Beteiligten für solche Aspekte hat zweifelsohne darin seinen Grund, dass partizipatives Wohnen auch eine Art Lebensphilosophie ist.
Hinweis: Seitdem das Citadelle-Viertel dem Nachhaltigkeitsnetzwerk Démonstrateurs de ville durable beigetreten ist, muss der von Baugemeinschaften oder Bauträgern geschaffene Wohnraum besondere, in den Ausschreibungen festgelegte architektonische und ökologische Vorgaben erfüllen.
Partizipatives Wohnen – wozu?
Aus Sicht des Umweltministeriums und der Städte und Gemeinden verbessert partizipatives Wohnen die Lebensqualität nicht nur der Bewohner, sondern auch des städtischen Umfeldes. Denn: „Wenn man unter Lebensqualität den Wohnkomfort und sowie den architektonischen, gesellschaftlichen und ökologischen Fortschritt versteht, dann hat partizipatives Wohnen im Vergleich zum klassischen ‚Wohnungsbau-Produkt‘ in der Tat viel zu bieten!“, weiß Emmanuel Marx. „Die Bewohner*innen bringen sich aktiv in die Hausgemeinschaft, die nachbarlichen Beziehungen sowie Verwaltung und Instandhaltung ihrer Wohnungen ein“, betont auch Martin Labrosse, Leiter des Projekts Habitat participatif der Stadt Straßburg. „Es ist ihnen ein Bedürfnis, ihren Alltag aktiv mitzugestalten“, ergänzt Emmanuel Marx, „und zwar nicht nur im eigenen Haus.“
Im Citadelle-Viertel sind derzeit partizipative Wohnprojekte für Baugemeinschaften und privatwirtschaftliche Bauträger ausgeschrieben.
Vier Varianten partizipativen Wohnens
Baugemeinschaften
Bei dieser bekanntesten Form partizipativer Wohnprojekte schließen sich die künftigen Bewohner*innen zusammen, um gemeinsam die Rolle des Bauträgers zu übernehmen. Sie erwerben das Gelände, organisieren die Finanzierung, ziehen einen Architekten hinzu… Attraktiv an dieser Variante ist vor allem die Gestaltungsfreiheit: die künftigen Bewohner*innen erstellen selbst die Pläne ihrer privaten und gemeinschaftlichen Wohnräume, wählen die Werkstoffe und Ausstattungen und bestimmen, wie sie vorgehen und zusammenarbeiten wollen. Entsprechend groß ist allerdings auch der Arbeitsaufwand: Zeit und Energie, Kompromissfähigkeit und solide Nerven sind unerlässlich!
Zeitplanung
Im Citadelle-Viertel vergehen vom Zuschlag an die Baugemeinschaft bis zur Lieferung des Wohnraums mindestens drei Jahre:
- 1 Jahr für Definition und Finanzierung des Projekts sowie Vorlage des Bauprogramms beim Architekten
- 1 Jahr für die Bauplanung in Zusammenarbeit mit dem Architekten
- 1 Jahr (mindestens) für die Bauausführung
Beratende Unterstützung
Natürlich erhält die Baugemeinschaft Unterstützung! „Für Interessierte organisieren wir Workshops in Zusammenarbeit mit dem Verein Éco-Quartier Strasbourg“, erläutert Victoire Guigues, die für das Citadelle-Viertel zuständige Projektleiterin bei SPL Deux-Rives. „Wir informieren sie ausführlich über alle Aspekte einer Baugemeinschaft und vermitteln bei Bedarf Kontakte mit Gleichgesinnten. Anschließend sprechen wir über die Finanzierung, die juristische Ausgestaltung* und schließlich das Bauprogramm.“ Nach erfolgreicher Teilnahme an einer Ausschreibung muss sich die Baugemeinschaft einen Bauherrenberater suchen. „Er gewährleistet, dass dem Architekten ein technisch korrektes Dokument vorgelegt wird, bietet aber auch juristische und technische Beratung.“ Die Hälfte der Bezahlung des Bauherrenberaters übernimmt SPL Deux-Rives (bis zu einer Höchstgrenze).
Der Verein Éco-Quartier Strasbourg hat zudem einen Leitfaden für Baugemeinschaften („Guide de l’autopromotion“) mit nützlichen Hinweisen und Erfahrungsberichten herausgegeben.
Und die Kosten?
Die Kosten sind nicht höher, aber auch meist nicht niedriger als bei traditionellen Bauvorhaben. „Dabei kommt es natürlich auf die Baugemeinschaft an. Aber bei gleichem Gesamtpreis ist der Wohnraum von deutlich besserer Qualität hinsichtlich Raumangebot, Materialien und Nachhaltigkeit!“, betont Victoire Guiges.
Wer sollte sich angesprochen fühlen?
Baugemeinschaften fordern ihren Mitgliedern viel Zeit ab! Ist darüber hinaus Fachwissen erforderlich? Nicht unbedingt, meint Emmanuel Marx. Woraus es vor allem ankommt, das sind „Offenheit und Dialogfähigkeit, Organisationstalent, Nervenstärke und Tatkraft“. Denn die Zahl der zu treffenden rechtlichen, wirtschaftlichen und finanziellen Entscheidungen ist groß – und sie müssen gemeinsam getroffen werden! „Das funktioniert eigentlich nur bei Bildung von Arbeitsgruppen“, meint Emmanuel Marx. „Außerdem lernt man nach und nach viel hinzu: einander zu vertrauen, Initiativen zu ergreifen, Risiken einzugehen.“ Für Emmanuel Marx sind Baugemeinschaften wie Lebewesen, die im Laufe der Zeit heranwachsen und reifen. „Die einen beteiligen sich stärker an der Definitions- und Finanzierungsphase, andere sind den Anforderungen des Projektalltag besonders gut gewachsen. Es wäre ja auch kein gutes Zeichen, wenn immer nur einige wenige führen würden…“
Was spricht für eine Baugemeinschaft?
Wie bereits erwähnt, überzeugen partizipative Wohnprojekte in Form einer Baugemeinschaft durch die Qualität der Gebäude und des menschlichen Miteinanders. Durch Einbindung der künftigen Bewohner*innen in die Planung sind Individualität und Abwechslung sichergestellt. „Der geschaffene Wohnraum wurde ja ihren Wünschen und Bedürfnissen entsprechend gestaltet – und damit ist auch die architektonische Vielfalt gewährleistet! So findet man bei partizipativen Wohnprojekten Außengänge, was sonst eher selten ist. Da man sich gut kennt, werden die sogenannten Durchgangsräume gemeinschaftlich genutzt, anders als in Eigentumshäusern, wo sie eher gemieden werden“ – und deshalb meist auch nur aus einem kleinen Eingangsbereich und dem Treppenhaus bestehen. Dabei können diese Räume wesentlich zum Wohlbefinden der Hausbewohner beitragen!
Darüber hinaus „hat man es beim partizipativen Wohnen nie nur mit einer Häufung von Wohneinheiten, sondern einem ganzheitlich durchdachten Gemeinschaftsprojekt zu tun“, hebt Emmanuel Marx hervor. „Baugemeinschaften sind Schicksalsgemeinschaften und setzen Lernfähigkeit voraus!
Beispiel: Ecologis
24, Rue de Lunéville – Straßburg-Neudorf
11 Wohneinheiten, von der 1- bis zur 6-Zimmer-Wohnung auf 5 Ebenen, Holzbauweise, verstärkte Wärmedämmung, Dach und Fassaden begrünt.
Gemeinschaftsräume: Mehrzwecksaal (35 m²), Spielzimmer, Werkstatt, Wäscheraum, (Gemüse)Garten, Fahrradgarage mit 33 Plätzen.
Ein für Straßburg beispielgebendes Projekt. Die 10 Familien der Baugemeinschaft haben sich vom Freiburger Öko-Viertel Quartier Vauban inspirieren lassen, mussten aber in vielen Bereichen völlig neue Wege gehen. Das Projekt nahm 6 Jahre in Anspruch und wurde wegweisend. Die Eigentümer*innen von Ecologis bilden heute eine für viele Menschen attraktive „Dorfgemeinschaft in der Stadt“, wie eine Bewohnerin feststellt: „Sobald wir aus der Wohnung treten, können wir uns auf den Außengängen mit Nachbarn unterhalten, wenn wir Zeit und Lust dazu haben. Wir können zusammen gärtnern oder waschen. Man trifft sich und man hilft sich. Und wer krank ist, weiß, dass er auf die Hausgemeinschaft zählen kann.“
Frei finanzierte Wohnprojekte
Diese Projekte werden von einem privatwirtschaftlichen Bauträger geleitet. Aber auch sie beruhen auf den drei Prinzipien partizipativen Wohnens:
„Inwieweit die künftigen Bewohner*innen eingebunden werden, ist natürlich weitgehend Sache des Bauherren“, betont Martin Labrosse. „Bei den Ausschreibungen, zum Beispiel im Citadelle-Viertel, müssen die Bieter in diesem Punkt allerdings genau Auskunft erteilen. Haben wir uns für einen Bieter entschieden, kann dieser dann Interessenten ansprechen. Für die Treffen und das gemeinsame Planen mit den künftigen Bewohner*innen zieht der Bauträger dann oft einen Berater hinzu.“
Die künftigen Bewohner*innen bringen sich weniger ein als im Rahmen einer Baugemeinschaft. Insbesondere sind sie nicht an der technischen Planung beteiligt. „Diese Variante eignet sich für Interessenten, die nicht ganz so viel Zeit für ihr Wohnprojekt aufwenden möchten. Der Bauträger trägt die finanziellen Risiken und ist deshalb auch an einer möglichst zügigen Umsetzung interessiert. Entsprechend kürzer sind die Ausführungsfristen.“
„Der Bauträger hat eine Software für die Auswahl der Farben und Baustoffe sowie die Raumaufteilung entwickelt“, erläutert Martin Labrosse. „Ausgehend von den Wünschen der Beteiligten entwickelt er ein konsensfähiges Projekt. Im Rahmen eines ersten Treffens wird das Projekt vorgestellt, man diskutiert darüber, wird sich einig oder eben nicht… Außerdem müssen die Bewohner*innen die Regeln für ihr künftiges Zusammenleben schriftlich festlegen.“
Geförderte Wohnprojekte
Anders als bei frei finanzierten Projekten dürfen die künftigen Eigner*innen nur über ein bestimmtes, gesetzlich vorgegebenes Einkommen verfügen. Bauträger ist eine soziale Wohnungsbaugesellschaft. Bei den beiden Projekten dieser Art im Citadelle-Viertel trägt die Eurometropole Straßburg die Kosten für die Betreuung der Bewohner*innen durch einen Bauherrenberater. „Anders wäre der Zeitaufwand für die Wohnungsbaugesellschaft zu groß.“
Beispiel: Ecoterra
7, Passage de la Gosseline, Ecoquartier Danube – Straßburg
14 Wohneinheiten, von der 2- bis zur 5-Zimmer-Wohnung.
Gemeinschaftsräume: Terrasse und Wäscheraum
Geförderter Mietwohnraum
„Diese Variante findet man noch selten“, räumt Martin Labrosse ein. „In Straßburg gibt es derzeit zwei Projekte dieses Typs. Allerdings sollen es deutlich mehr werden, um partizipatives Wohnen auch für Menschen mit geringem Einkommen erschwinglich zu machen.“ Im Citadelle-Viertel sind 26 geförderte Mietwohnungen geplant. „Aber das Problem ist, dass die Kommissionen zur Vergabe dieser Wohnungen erst nach ihrer Fertigstellung zusammentreten“, berichtet Martin Labrosse. „Deshalb muss im Vorfeld sichergestellt werden, dass die künftigen Bewohner*innen (die die Einkommenskriterien für Sozialwohnungen erfüllen müssen) die betreffenden Wohneinheiten nach deren Fertigstellung auch bekommen. Auch die Finanzierung der Gemeinschaftsräume ist bei dieser Variante nicht einfach… Die öffentlichen Darlehen für den sozialen Bauträger sind eben nur schwer mit den Prinzipien des partizipativen Wohnens vereinbar. Ein Zusammenschluss von Städten und Gemeinden hat sich nun an das Ministerium gewandt mit der Bitte, die Gesetzgebung doch entsprechend anzupassen.“
Beispiel: Pot’Âgés
23, Rue de Lunéville – Straßburg (im Bau befindlich)
10 Wohneinheiten für ältere Menschen
Gemeinschaftsräume: Mehrzwecksaal, Küche, Gästezimmer, therapiegerechtes Badezimmer, Wäscheraum, Garten, Terrasse.
Die relativ kleinen Wohneinheiten werden durch zahlreiche große Gemeinschaftsräume ergänzt, damit sich die Bewohner*innen zu allen Tageszeiten treffen und gemeinsam beschäftigen können. Der Verein Cocon3S Alsace hatte mehrere Jahre lang bei Partnern, Stadt und Bauträger für dieses Projekt geworben. Nun tritt an seine Stelle der Verein der künftigen Mieter*innen: „Les Pot’Âgés du 23 rue de Lunéville“.
Fazit
„Was für die künftigen Bewohner*innen vor allem zählt, ist, ihrem Leben einen Sinn zu geben, in Übereinstimmung mit ökologischen Prinzipien zu wohnen, ein solidarisches, an menschlichem Miteinander reiches Leben zu führen und auch zu anderen Generationen Kontakt zu halten“, bemerkt Emmanuel Marx abschließend. Das gelte für alle vier Varianten des partizipativen Wohnens.
Mehr über partizipatives Wohnen in Straßburg und der Region erfahren Sie hier.